Ein Abend mit der Dynamik eines stehenden Gewässers
Der See, dauerhaft in verschiedenen Lichtstimmungen an die Rückwand der Bühne projiziert, spielt eine zentrale Rolle in Torsten Fischers Inszenierung der „Möwe“. Ein Stück, das dramaturgisch, inhaltlich und sprachlich so weit weg von Tschechows Original ist, dass es eigentlich einen neuen Titel gebraucht hätte.
Vielversprechender Beginn
In den ersten fünfzehn Minuten, den interessantesten des ganzen Abends, werden die Figuren nacheinander eingeführt, indem sie sich in den jeweiligen Paarkonstellationen bis auf die Unterwäsche ausziehen und miteinander ins Bett hüpfen. Ein Symbol für die Verletzlichkeit, das sprichwörtliche seelische Entkleiden von Schauspielern? Schön wär’s.
So vielversprechend der Abend beginnt, so spielfreudig das Ensemble zu Beginn agiert, so schnell erschöpft sich die Inszenierung leider auch. Es folgt ein langatmiger, streckenweise von nerviger Loungemusik unterlegter Theaterabend, der weder Dynamik noch berührende Figuren oder poetische Bilder bietet. Auffallend viele Szenen spielen sich liegend auf dem Boden ab, was für Besucher*innen in den hinteren Parkettreihen ziemliche Sichtprobleme zur Folge hat. Die Unterlegung der Dialoge mit Musik erschöpft sich schnell und trägt auch nicht zur Verständlichkeit des ohnehin schon zu leisen Ensembles bei. Das schlichte Bühnenbild (Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulus) aus weißen Wänden, durchsichtigen Vorhängen und einer großen Projektionsfläche für die Bilder des Sees ist auf die Dauer der zweieinhalbstündigen Inszenierung ermüdend anzuschauen und nimmt den Darsteller*innen wertvolle Spielmöglichkeiten.
Aktuelle Bezüge und gescheiterter Modernisierungsversuch
Fischers Adaption des Bühnenklassikers spart nicht mit modernen Anspielungen, etwa auf den Krieg in Russland, und Trigorin (Claudius von Stolzmann) hat statt eines Notizbuchs ständig einen Laptop mit dabei. Die Größe der Figuren und ihre fundamentalen Anliegen gehen bei diesen Modernisierungsversuchen fast gänzlich verloren, man sieht einen Abend lang Charakteren zu, die für eine Bühne schlichtweg zu uninteressant sind. Ein bemühtes Ensemble bleibt über weite Strecken oberflächlich, der Text klingt mehr nach Papier als nach wahrhaftigen Menschen. Schauspielerischer Lichtblick ist Johanna Mahaffy als Mascha, und Markus Kofler gibt einen witzigen, Anekdoten erzählenden Gutsverwalter mit schlechtem Namensgedächtnis, der für einige Lacher sorgt.
Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit sind die Streitszene zwischen Irina (Sandra Cervik) und ihrem Sohn Kostja (Nils Arztmann), die sich ansonsten beide gut durch das Stück schlagen, sowie das umgeschriebene Ende, ein Monolog von Nina (Paula Nocker).
Umbruch im Theater
Zu Beginn des Stücks fordert Kostja einen Umbruch im Theater. Zu Tschechows Zeit lag dieser im Wunsch nach authentischer, naturalistischer Darstellung von Menschen und ihren Problemen. Umso schmerzlicher ist es, dass gerade diese Inszenierung vor Augen führt, dass wir heute wieder an einem ähnlichen Punkt angelangt sind. Wann wird Theater wohl wieder einmal so gespielt, dass die Geschichte des Autors erzählt wird, und nicht die Interpretation eines Regisseurs?
Fazit
Spannende Ausgangslage und ein vielversprechender Beginn führen letztlich zu einem Theaterabend, dem es an Dynamik und Tiefe fehlt.
Zurück bleibt ein etwas ratloses Publikum, das dennoch freundlich applaudiert. Beim Verlassen des Theaters bemerkt eine Zuschauerin: „Berührt hat mich eigentlich nichts.“. Wie recht sie hat.
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Autorin: J.S.
FotoCredits: Moritz Schell
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